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WAS WIR BEREIT ZU GEBEN SIND – ROMAN

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Emmas Existenz ist geboren aus dem Verlust ihrer Großmutter. In einer Welt, in der ein Leben nur entstehen darf, wenn ein anderes erlischt, scheint das Gleichgewicht zwischen Bevölkerungskontrolle, Wohlstand und Umweltschutz perfektioniert. Emma glaubt fest an dieses System – bis das Schicksal in Gestalt ihrer alten Schulfreundin Nora anklopft.
 

Mit einem unerlaubten Leben unter dem Herzen steht Nora vor der Zerreißprobe ihres Daseins, gefangen in einem Netz aus Verzweiflung und Angst davor, entdeckt zu werden. Widerwillig, doch getrieben von einer alten Schuld, entscheidet sich Emma, alles zu riskieren.
 

Ihre Hilfe für Nora entpuppt sich als Reise in die Abgründe ihres Landes und offenbart Geheimnisse, die im Dunkeln besser aufgehoben gewesen wären.

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LESEPROBE

Der erste Abschied, an den ich mich erinnere, war der meines Großvaters. Ich war sieben Jahre alt, wir hatten gerade den ersten Geburtstag meines Bruders gefeiert und waren bei meinem Großvater zu Besuch. Seine Wohnung roch nach alten Zeitungen und Espresso. Er tobte mit mir auf der Ledercouch herum, las mir aus meinen Lieblingsbüchern vor, während meine Eltern ausladende Mahlzeiten kochten und sich um den kleinen Matthes kümmerten. Ich hatte die Besuche bei meinem Großvater immer genossen, doch diesmal war etwas anders als sonst. Wie eine schwere Decke, die sich manchmal auf ihn legte, wenn ich kurz wegsah. Dann wurde er kleiner, seine Bewegungen schwerfälliger. Manchmal hielt er Matthes gedankenverloren im Arm und sah ihm zu, wie er an einem Keks lutschte, ohne eine Miene zu verziehen. Ich verstand sie nicht, seine plötzliche Fremdheit, seine Wortkargheit, und so setzte ich mich abseits in den Erker und schaute Videos auf meinem Tablet an.

Es war ein ausgedehnter Besuch, sicher über eine Woche, in der Papa und Opa lange Spaziergänge unternahmen. Sie ließen Mama, Matthes und mich zurück, nahmen ihre Schwermut mit nach draußen, und es wurde ein wenig leichter in meinem Bauch. Mama und ich sangen Matthes Lieder vor, und er gluckste, griff mit seinen speckigen Händchen nach meiner Wange und grub seine scharfen Nägel in meine Haut. Wenn sie zurückkamen, wurde es wieder leiser, bis Opa sich zu mir beugte und mich in die Seite kniff als Startschuss für unsere nächste Couchtoberei. Ich machte mit, doch so sehr ich mich anstrengte, so laut ich auch lachte, es fühlte sich anstrengender an als sonst.
Meine Eltern hatten mir erklärt, was beim Abschied passieren würde. Sie hatten das Kino-Gleichnis benutzt. Viel später stellte ich fest, dass die Anteilsverteilungszentrale, die wir nur AVZ nannten, ein Handbuch herausgab, in dem dieses Gleichnis stand. Als anschauliche Erklärhilfe. Das Land sei wie ein Kino, in dem es nur eine begrenzte Anzahl von Plätzen gebe. Anfangs habe Matthes auf Mamas Schoß sitzen können, aber inzwischen brauche er seinen eigenen Platz. Und Opa habe sich bereit erklärt, seinen Platz zu räumen.
Ich verstand nicht. Zugegeben, ich war erst einmal im Kino gewesen, hatte mich schrecklich gegruselt in der Dunkelheit und sah keinen Grund, wieso wir gemeinsam mit Opa ins Kino gehen sollten. Er schaute nie Filme mit uns.
»Er kann auf dem Boden sitzen«, sagte ich. »Er kann stehen bleiben, hinten an der Wand, wo er niemandem den Blick versperrt. Er kann meinen Platz haben, ich nehme Matthes auf den Schoß.« Es gab so viele Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen, und ich listete sie alle auf, doch Mama schüttelte nur den Kopf.
»Aber wo soll er dann hin?«, fragte ich, und sie strich mir über die Wange und lächelte nur. Heute bilde ich mir ein, dass ich es da verstand, obwohl das wahrscheinlich nicht stimmt. Wahrscheinlich verstand ich es erst am Tag des Abschieds.
Mama zog mir mein bestes Kleid an, dazu die Lackschuhe, die an der Seite drückten. Es machte nichts, ich sah gerne hübsch aus. Auch Mama zog sich schick an, Papa trug einen Schlips, Opa ebenso. Matthes steckten sie in ein langes, weißes Kleidchen, was ich nicht verstand. Erst bei der Parade stellte ich fest, dass alle Babys solche Kleider anhatten. Eine Uniform für Kleinkinder.
Es gab Fahnen und Musik und Zuckerwatte. Überall liefen Menschen mit Kameras umher, filmten und knipsten, und Eltern hielten sich ihre leuchtend weißen Babys entgegen, stupsten auf Näschen. Ich schloss mich ein paar anderen Kindern an, kletterte mit ihnen auf einem Gerüst herum, fiel irgendwann und schürfte mir das Knie auf, woraufhin Mama mich fest am Arm packte und nicht losließ. Ihr Griff schmerzte mehr als die Wunde. Ich verstand ihre Anspannung nicht, entschuldigte mich für den vollgebluteten Strumpf, über den sie sich unter anderen Umständen nicht so aufgeregt hätte, aber sie reagierte nicht.
Später gab es eine Ansprache, der ich nicht zuhörte. Stattdessen protestierte ich, wollte mich aus Mamas Griff winden. Sie zog mich aus der Menge, blieb erst hinter einem Baum stehen, beugte sich zu mir hinab und sagte: »Du wirst artig sein. Du wirst dich zusammenreißen und bei mir bleiben und still sein, einen Tag lang, denn heute geht es nicht um dich, verstanden? Heute geht es um deinen Opa, und zwar nur um deinen Opa. Das ist ein wichtiger Tag für ihn und für deinen Vater. Und für mich. Und für dich auch. Hast du verstanden?«
Nein, ich hatte nicht verstanden, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht erschreckte mich so sehr, dass ich nickte.
Als wenig später die Prozession losging und wir uns in die Familien einreihten, die über die Hauptstraße Richtung Rathaus marschierten, flankiert von den anderen Besuchern, die jubelten und winkten, war ich mir des Blutflecks auf meinem Strumpf schmerzhaft bewusst. Ich schämte mich, dass alle mich so sahen, und schaute beim Gehen auf meine Schuhspitzen. Opa trug Matthes auf dem Arm, Papa ging an seiner Seite, hatte sich untergehakt, als wären die beiden ein Paar. Niemand von uns sagte etwas, nur Matthes gurgelte vor sich hin und testete die wenigen Silben, die er schon beherrschte.
Vorm Rathaus warteten die Limousinen. Ich war aufgeregt, weil ich hoffte, mitfahren zu dürfen. Ein Mann in einem Anzug führte uns zu einer hin und sagte dann: »Es ist Zeit für den Abschied.«
Opa übergab Matthes meiner Mutter und nahm sie in den Arm.
»Danke«, flüsterte sie in seine Schulter.
Dann beugte Opa sich zu mir hinunter. »Verstehst du, warum das hier gerade passiert?«, fragte er. Er roch nach Aftershave. Seine Augen waren ungewöhnlich blau.
Ich nickte. »Wegen Matthes.«
Er legte seine Hand an meine Wange. »Sorge dafür, dass er sich an mich erinnert, so wie du dich an deine Oma erinnerst. In euren Erinnerungen leben wir weiter.«
Ich nickte, obwohl ich nicht verstand. Ich erinnerte mich nicht an Oma, ich war ja noch ein Baby gewesen, damals, als sie mit mir auf dem Arm diesen Gang getan hatte. Es gab Fotos, eines stand sogar auf meinem Nachttisch, und an das dachte ich jetzt. Galt das als Erinnerung? Ich ahnte, dass Opa es anders meinte.
»Ich habe dich sehr lieb, Emma.« Dann küsste er mich auf die Stirn und stieg in den Wagen.
Papa drückte Mamas Hand. Erst jetzt bemerkte ich, wie rot seine Augen waren. Dann stieg auch er ein, und der Wagen fuhr an.
Ich bekam Panik. »Papa«, rief ich, wollte dem Auto hinterherlaufen, doch Mama griff mich wieder am Arm, hielt mich fest.
»Er kommt später nach«, sagte sie nur.
Nach Opa fragte ich nicht.

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