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ENTGLEIST – ROMAN

Der Roman wurde mit dem Skoutz-Award 2020 in der Kategorie Contemporary ausgezeichnet.

Cover Entgleist SP mit Skoutz.jpg

Was tun mit einem Leben, mit dem man abgeschlossen hat?

 

Auf einer ICE-Trasse in der Nähe seines Hauses möchte Heinrich Knopp seinem bedeutungslosen Leben ein Ende setzen. Doch der sorgsam ausgewählte Zug kommt nicht. Heinrich bleibt nichts anderes übrig, als nach Hause zurückzukehren.

Durch Zufall erfährt er, dass der Zug den Bahnhof wegen einer anonymen Bombendrohung nie verlassen hat. Also macht er sich auf die Suche nach seinem Lebensretter. Der Teenager Felix, Sohn reicher Eltern und Mitglied einer linken Wohngruppe, wird zu Heinrichs neuem Lebensinhalt.

Schleichend gerät Heinrich auf einen Weg aus Irrglauben und Radikalität, an dessen Ende er alles verlieren könnte.

 

„Es gibt Bücher, die bringen es fertig, dass das Lustige tragisch und das Tragische komisch wird. Die mit einer einzigen Frage den Leser in den Bann ziehen und ihn förmlich zum Lesen zwingen. Entgleist von Katharina Glück ist so ein Buch.“ (Kay Noa – Skoutz)

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LESEPROBE

An einem sonnigen Mittwochnachmittag, genauer gesagt um 16 Uhr 42, legte Heinrich Knopp sich auf die ICE Trasse, die durch das Wäldchen hinter seinem Haus verlief, und wartete auf den ICE 74. Er hatte sich ein kleines Sofakissen mitgebracht, um seinen Nacken zu schonen. Immerhin konnte es trotz aller Vorbereitung zu Veränderungen im Fahrplanablauf kommen, und er wollte keinesfalls mit einem steifen Nacken sterben. Er hatte sich eine besonders dunkle Stelle ausgesucht, hohe Eichen zu beiden Seiten der Trasse, ausladende Brombeersträucher. Sich selbst hatte Heinrich ebenfalls dunkel gekleidet, sich genau hinter die sanfte Kurve gelegt, die die Schienen hier machten. Auch deswegen hatte er den ICE 74 gewählt: es wurde langsam Abend, die Sonne neigte sich jetzt im frühen Herbst schon dem Horizont. Die Bäume warfen Schatten, überall Zwielicht. Mit etwas Glück würde der Zugführer ihn gar nicht bemerken und das Rumpeln für einen Ast halten, einen Fuchs vielleicht. Im besten Fall würde er überhaupt nichts mitbekommen. Heinrich Knopp würde genau das besonders passend finden. Es schien ihm ein ehrlicher Abschluss.

Er hatte diesen Tag von langer Hand geplant, wie es seine Art war. Er überließ die Dinge ungern dem Zufall. Er hatte sich nach einer taktischen Überprüfung diverser Suizidmethoden für den Zug entschieden. Bei allem, was man gegen die Deutsche Bahn zu sagen hatte, Heinrich hatte sie immer imponiert. Dieses exakte Uhrwerk von Zügen, Gleisen und Weichen, die in penibler Choreografie Menschenmassen durch das ganze Land transportierten, ohne dass jemand zu Schaden kam – für Heinrich war das eine Meisterleistung. Als Kind hatte er mit seinem Vater ganze Wochenenden im Keller verbracht und kleine Modellzüge durch eine Landschaft aus Plastik und Bauschaum gleiten lassen. Sie hatten sich codierte Signale zugerufen, auf Knöpfe gedrückt, Weichen umgestellt, die Gleisansagen abwechselnd mit tiefer Stimme in die Fäuste gesprochen, dass sie verzerrt klangen. Runde um Runde hatten die Züge durch Dörfer und Tunnel gedreht, bis Heinrichs Mutter sie irgendwann zu Tisch gerufen hatte. Die Modelleisenbahn gab es noch, sie stand jetzt in Heinrichs Keller. Aber die Züge fuhren nur noch selten. 


Über Wochen hinweg hatte Heinrich Zugstrecken und Fahrzeiten aufgeschrieben und verglichen und sich schließlich für den Mittwoch entschieden, an dem es auf dieser Strecke zu den wenigsten Verspätungen kam. Dann hatte er sich unter Berücksichtigung der Sonnenuntergangsuhrzeit für ein Datum entschieden. Und dann hatte er gewartet. Jeder Tag in dieser Zeit war gewesen wie der Vorherige: stummes Frühstück mit Zeitung und dünnem Kaffee, die endlosen Stunden im Büro, Abendessen vor dem Fernseher, Einkaufen am Samstag, Tatort am Sonntag. Heinrich betrachtete sich von außen, als nähme er selbst schon gar nicht mehr teil an seinem Leben. Der August verstrich, heiße Tage, schwüle Nächte, die Klimaanlage im Büro leistete Schwerstarbeit. Und dann wurde es endlich Herbst.

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